res:publica 2014 – ein Versuch

Die re:publica dauert zweimal. Drei Tage Eintauchen, drei Tage Inhalte, oder länger, je nach Gusto. Sie ist keine Konferenz und kein Barcamp. Sie ist eher eine CampKonferenz. Sie ist Inhalte und sie ist Kultur. Eher noch ist sie Kultur und Inhalte. Die re:publica (#rp) ist schwer zu fassen. Selbst im 8. Jahr. Ein Versuch.
Die re:publica ist großartig und reisst fast jeden mit. Der re:publica Blues, das persönliche, seelische Loch danach, ist ein stehendes Wort. Was solch eine emotionale Tiefe erschafft, ist mehr, als eine Kultur. Eine Kultur reisst mit, im besten Fall, die re:publica aber stiftet Identität.
Nicht bei allen. Eine Ihrer großen Stärken. Die #rp hat keine Themenstränge, keine Zielgruppen, sondern eher Besuchercluster. Deshalb kann die FAZ ganz anders darüber schreiben, als die T3N und es stimmt doch. Womit ich mich an dieser Stelle erstmalig einem Begriff widmen muss.

Was ist eine Netzgemeinde? Die Urchristen trafen sich an verschiedenen Orten im Mittelmeerraum. Verschiedene Herkünfte, sowohl aus lokaler, als auch sozialer Sicht, aber gleicher Glaube. Sie verstanden sich als Gemeinde.
Christiane Frohmann lässt in Ihrem sagenhaften Vortrag diesen Halbsatz fallen: „… das Internet als Religion…“ Eine Urgemeinde braucht keinen Leitfaden, keine etablierte Struktur, so wenig Glaube an sich fassbar ist. Im einfachsten Fall: Der Glaube daran, daß das Internet gut ist, hatte die Netzgemeinde geeint.
Im Deutschen meint Gemeinde aber auch eine Siedlung, ein Zusammensein. Das scheint mir der aktuelle Entwicklungsstand der #rp. Aus einem diffusem Glaubensvölkchen wird eine Gemeinde. Wird, denn noch ist es nicht soweit.
Das Ganze ist zu _emotional virtuell_, als das es den Teilnehmern schon greifbar wäre. Die Tendenz ist aber sichtbar: Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl, das Gefühl eines Ortes, der sich in den Herzen materialisiert. Orte können auf verschiedenen Werteebenen entstehen, von der sichtbar, materiellen, bis eben hin zur Religion. Die #rp ist auf dem Weg dahin, eine solche Heimat zu schaffen. Der Ort, an dem die Vernetzte Gemeinde lebendig wird.

Genau hier muss ich der FAZ widersprechen, sie „disskursieren“ (vlt. gefällt Wibke der Begriff? Nicht ganz leicht, aber Ein Huhn ist ja auch kein Ponyhof ;-). Die #rp war immer eine Gesellschaftskonferenz und keine Internetkonferenz. Es ist ja nicht so, daß sich das Internet nicht immer schon der Gesellschaft geöffnet hätte. Es ist doch so, daß sich nun langsam die Gesellschaft dem Internet öffnet. Deswegen waren es nun über 6000 Besucher und nicht mehr 600. Nicht andersherum.
Es ist also ein WerteSet, daß die Teilnehmer der #rp eint, entweder, weil sie diese Werte leben, oder weil sie spüren, daß diese Werte dabei sind, die Welt zu verändern, oder einfach einen gehörigen Impact haben. Werte auf einer hohen emotionalen Ebene. Weshalb sich so viele unterschiedliche Menschen unter Ihrem Dach versammeln können und Bier trinken. Werte, die nichts mit Technik zu tun haben und nur wenig mit Technologie. Werte, wie sie sich z.B. im Zufall offenbaren, dem finalen, gemeinsamen Absingen der Bohemian Rhapsody von Queen.
Der Song wurde vor Jahren auf der #rp als Lückenfüller zum Suchbegriff Karaoke zufällig gefunden. Doch selbst mit endloser Suche wäre es schwer, einen Besseren auszugraben. Er passt einfach zu den Lebenskünstlern, die sich hier vereinen. Manchmal auch ganz direkt, wie in der Zeile: „Is this the real life, is this just Fantasy?” Wer die #rp tiefer verstehen will, kann sich durchaus Text und Bauart mal anschauen.
So entsteht Heimat. Gemeinsame Werte entdecken, festhalten, dafür einstehen und dann – sesshaft werden – egal an welchem Ort. Der Weg der #rp.
Sie IST eine Gesellschaftskonferenz. Doch zunächst muss sie das Thema Technologie überwinden, um zu verstehen, um welche Gesellschaft es geht.
Genau hier setzt meine inhaltliche Kritik an. Vielen Vorträgen fehlt der Referenzrahmen, um Sinn zu entfalten. Viel zu viel ist noch 19. Jahrhundert, Nationalstaatliches, obwohl man sich doch genau davon frei machen möchte. Sie bleiben so im Kleinen, wo doch Großes denkbar und wichtig wäre. Nicht verwechseln: das Große steckt im Kleinen, doch genau dieses Kleine gilt es zu finden. Ein Beispiel: Warum regen sich die Leute nicht über das Ausmaß der Überwachung auf? Weil es eine wichtige staatliche Funktion ist, um Sicherheit zu gewährleisten. Alle Non-Techies, die ich kenne, nehmen das bewusst wahr. Solange aber keine Alternativen sichtbar sind, bleibt das Thema, wie es ist. Es lohnt einfach nicht, sich aufzuregen. Was ja nicht heisst, daß man es nicht wahr nimmt. Nur: genau diese wichtigen Fragen werden auf der re:publica zwar besprochen, aber nicht behandelt.
Die Netzgemeinde ist noch zuviel Anarchie und zu wenig Hippie. Aber es wird besser.
Das ist keine Kritik an der #rp. Im Gegenteil. Sie ist so, wie sie ist und so ist sie gut, denn sie ist ja keine Konferenz. Sie ist ein dynamisches Abbild. Genau das ist doch Gesellschaft, ein Prozeß, eine Entwicklung. Mit Bier, Blasen und Bropheten.

Es wäre einfach nicht das Internet, wenn jetzt alle nach Hause gehen und eine Revolution anzetteln würden. Aber: 6000 – und etliche mehr an den Bildschirmen – gehen mit einem anderen Kopf nach Hause – und, was viel mehr zählt – einem anderen Herzen. So findet Veränderung, Umsetzung und Anwendung an vielen kleinen Stellen statt. Von den Aktivisten, den Wissenschaftlern, den Politikern bis zu den Vorstandsmarketingleuten(™) und nicht zuletzt den Zuschauern von U-Bahn-TV in Berlin, was ja auch Leute aller Kontinente sind, von Wedding bis Neuseeland.
Into the wild – ist für die einen aufregend, für die anderen beängstigend. Alle sind Gesellschaft. Die Geschwindigkeit der Bits & Bytes ist eine der Physik, keine der Menschen. Mit einem Wort: passt schon. Langsam, aber unaufhaltsam entsteht eine neue Welt. Eine Welt, in der die und- Menschen, die entweder-oder-Menschen mitnehmen müssen:
Unsinn stiften als performative Aufklärung von Christiane Frohmann [sic!] – mein Vortrag der #rp14. Der Vortrag entsteht durch Framing eines Themas, wird dann aber frei gehalten. Er verbindet Kulturwissenschaft mit Alltagssprache und Alltagserleben. Neben der Aufteilung in die Menschen der Renaissance (Entweder-Oder, klare Strukturen und Verhaltensweisen, klass. Wissenschaft) und die Menschen davor und danach (Und-Menschen, Zusammenhänge, Verbindungen, emotionale Ganzheitlichkeit, eben auch mit Unschärfen und Unendlichkeit), spricht sie auch von Big Data. Unsinn als Möglichkeit, den großen Algorithmus auszutricksen. Mensch vs. Maschine.
Der Vortrag von Viktor Mayer-Schönberger, Prof am Oxford Internet Institute, war wie eine Vorbereitung dazu: Freiheit und Vorhersage: über die ethischen Grenzen von Big Data. Er plädiert für mehr Menschlichkeit bei Big Data, sowohl aus Effizienzgründen, weil die Algorithmen auf individueller Ebene nicht funktionieren, aber auch aus ethischen Gründen, weil Big Data schlicht eine Sauerei ist, wenn Schweine hinter dem Computer sitzen.
Nicht zuletzt deshalb fordert er neue, unabhängige Institutionen, die Big Data für den Einzelnen überwachen – und damit das Selbstbestimmungsrecht massiv einschränken würden. Eine sehr praktikable, aber ethisch böse These. Entweder-Oder Mensch trifft auf Und-Kultur. Das auf den Punkt zu bringen, dafür bin ich der FAZ z.B. wieder sehr dankbar.
Yvonne Hofstetter bringt es mit Big Data? Intelligente Maschinen! dann auf den Schmerzpunkt und mich in einen Zustand der tiefsten Besorgnis. Trotz Erkältung ist sie gekommen und hat Ärger im Gepäck. Was sie erzählt, ist keine Ideologie, sondern Praxis. Eine Praxis, die tief reingeht, in das, was Big Data eigentlich ist. Jenseits von AdServern. Hochintelligente Entwickler, die vom Militär in die Wirtschaft gegangen sind und z.B. über Hochfrequenzhandel das Löwenstück des sogenannten Marktes verwalten und steuern. Algorithmen, die andere Algorithmen austricksen. Börsencrash’s, die sich im Microsekundenbereich abspielen und nicht mehr sichtbar sind, die größte volkswirtschaftliche Kontrollinstanz, die FED, die heimlich über einen Algorithmus den Goldpreis sinken lässt. Dabei werden etliche Milliarden verschoben.
Unsichtbare Hand? Adam Smith? Liebe Wirtschaftsunis – schaut mal rein und stuft Eure derzeitigen Seminare als „Wirtschaftsgeschichte“ ein.
Das alles, während Gabriele Fischer, brandeins, im Interview mit Johnny Häusler, Veranstalter, erzählt, daß das NSA-Thema seit spätestens 2000 präsent ist. Warum also jetzt erst die große Aufregung?
Weil die Netzgemeinde noch ganz, ganz weit weg ist von der Realität. Die alte und die neue Welt haben sich definitiv noch nicht vermischt. Das sollten sie auch nicht. Neue Wege findet man nicht mit den Maschinen von gestern, aber mit Geduld und Herzblut, wie es Robert Basic unter „Sind re:publicaner naiv?“ zusammenfasst.
Damit habe ich gerade einmal vier Vorträge von über 300 zitiert. Viele Stunden Video- und Audiomaterial aller Sessions stehen zur Verfügung. Ein Zeitbild, das man unmöglich abarbeiten kann. So wie man das Internet nicht lesen kann. Es gäbe noch so viel zu sagen. Zum Beispiel über die Geschichte der #rp, die Florian Krakau mit ein paar illustren Althasen der #rp im Plogcast – dem Barcamp-Podcast vor Ort aufnahm, inkl. mehr Gefühl, Kultur und Subtext, als ein Blogbeitrag übertragen kann.
Ein Nerd, Geek und Freak ist jemand, der sich seinem Thema mit Leidenschaft widmet. Die Begriffe haben auf dieser #rp endgültig jeden negativen Touch für mich verloren. So traf ich einen berühmten Rechtsanwalt, der von den neuen Möglichkeiten der virtuellen Realität angetan war. Man könne so unglaublich tief eintauchen. Zeit und Raum vergessen.
Brauchen wir wirklich erst die Technologie, um zu verstehen, daß unsere Welt das noch viel besser kann? Die sogenannte reale Realität… Oder kurz: Natur. Sie ist unendlich und unendlich schön. Into the wild – ein nächster Schritt hin zum HighTech / High Touch, dem Jahrhundert, in dem sich Kultur und Natur ultimativ vereinen werden.
Was also ist die re:publica?
Die #rp ist ein großer Connect, von Menschen, die das 21. Jahrhundert immer besser verstehen und große Lust darauf haben. Jede Technologie ist Menschengemacht, transportiert Werte. Nur die Natur ist wahrhaftig. Welcome into the Wald! Oder wie es Christiane in Ihrem sagenhaften Vortrag mit auf den Weg gab:
Hermeneutik ist heilbar. Christiane Frohmann
Bei sowas muss ich dann immer heulen. In diesem Satz steckt alles drin. So unglaublich viel in drei Worten. Ein Manifest. Skynet ist abgesagt. Die Zukunft ist immer schon da. Zum Beispiel auf der re:publica. Das Zeitalter des Menschen hat begonnen. Der Mensch. Der, den du kennst und der, der alle ist. Das geht wohl nur im Deutschen. Diese gewichtige Aussage schlicht als „Zeitalter meiner netten Nachbarn“ zu verstehen. Zusammen öffentlich heulen, geht wohl nur auf der re:publica. Emotion ist keine Schwäche. Maschinen weinen nicht. Emotion ist: Wurst! #esc #Europe’s #Social #Community
Drei Sessions zum Thema #Heimat auf der re.publica 2014. #check