Marke, Identität, Soziale Identität
Die Marke ist das Symbol einer sozialen Identität. So mein Verständnis. Aber was ist eine soziale Identität? Die Wikipedia kennt einen enorm langen Beitrag der Wissenschaft zur individuellen Identität – der trotzdem komplex und unklar bleibt. Zur Sozialen Identität wird es dann wiederum ganz dünn und in meinem Verständnis altmodisch, da es nur um einige Verhaltensweisen in Gruppen geht. Einige Wenige haben sich um den Zusammenhang von Marke und Sozialen Identitäten bemüht, nicht zufällig im Rahmen der Brand Communities. Immerhin wichtige Ansätze, um Marken im sozialen Raum zu verstehen. Doch auch hier dringt das Denken nicht bis zum Kern vor. Marty Neumeier definiert die Marke als Bauchgefühl des Kunden. Dabei muss man exakter sagen: das Bauchgefühl der Kunden. Die Kunden zusammen konstituieren die Marke. Wenn kein Kunde an die Werte einer Marke glaubt, gibt es auch keine Marke.
Mithin ist die Marke ein Wertebündel, daß einem Angebot Mehrwert verleiht. Der Mehrwert muß über den reinen Nutzwert hinausgehen, der ja durch den Preis bestimmt ist. Wertebündel sind aber virtuelle Gebilde. Nicht _anfassbar_, aber _begreifbar_. Sie existieren nur in den Köpfen Bäuchen der Menschen. Der Begriff „Bauch“ bezieht sich auf das Gefühl, in Abgrenzung zum Gedanken („Kopf“).
Genau hier ist die Verbindung zur Identität. Das Wort Identität hat, wie der Begriff Marke auch, kein Verb. Ich kann etwas identifizieren oder markieren, aber nicht identen oder marken. Im Deutschen ein guter Hinweis darauf, daß der Begriff statisch und dynamisch zugleich gedacht werden kann. Die Identität, genau wie die Marke, bezeichnet ein Etwas, aber auch eine Entwicklung. In einer grafischen Darstellung lässt sich dieser Umstand gut als Kombination von Ort und Raum darstellen, oder auch Kern und System:
Links ist die Identität eines Menschen, rechts die Identität einer sozialen Gruppe dargestellt.
Beim Menschen bildet sich die Identität durch die Anzahl seiner Handlungen, die zu Erfahrungen werden. Das kann der Käsekuchen bei Oma sein, der immer am leckersten ist und deswegen immer wieder gegessen wird. Der Käsekuchen beim Bäcker dient allenfalls als Vergleichsobjekt für den „wahren“ Käsekuchen. Das Gleiche gilt für die Mitgliedschaft in einem Sportverein, die maßgeblich von den anderen Sportlern bestimmt wird. Solange das Gefallen, das Mißfallen überwiegt, geht man immer wieder hin. Beide Aktivitäten – Käsekuchen und Sport – haben auch einen Nutzwert. Da dieser aber auf vielen Wegen herstellbar ist, überwiegen die konkreten Werte bei der Entscheidung für oder gegen etwas. Erlebnisse werden durch Gefühle bewertbar – so entstehen Werte, derer man sich im Laufe des Lebens immer mehr bewusst wird. Aber es bleiben diffuse Gefühle und alle Sprachen der Welt reichen nicht, sie konkret auszudrücken (siehe Kunst). Letztlich kann ein Mensch nur für sich selbst sagen, wie sich etwas anfühlt. Dabei werden Referenzen gebildet, die helfen, Gefühle einzuordnen. Kultur kann dabei helfen. Sie ist ein größerer sozialer Referenzrahmen. Das kann die Kultur des Heimatortes genauso sein, wie die Kultur einer Gesellschaft, oder immer mehr die menschliche, gobale Kultur selbst. Je nachdem, wo man sich „verortet“ fühlt. Das Leben jedes Einzelnen bildet also im kulturellen Ich-Raum die Identität. Das „Ich“ ist die Sammlung aller Entscheidungen im Leben, mal mehr, mal weniger selbstbestimmt. Dieses „Ich“ verdichtet sich im Kern zu einem Wertebündel, daß leitend für alle Handlungen wird. So können wir wichtig von unwichtig, gewollt von ungewollt, schön von unangenehm unterscheiden. So können wir _unterscheiden_. So entsteht Bedeutung: Eine Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Damit ist dieser Kern aber ein Wir und kein Ich, denn es ist der kleinste und zugleich stärkste gemeinsame Wertenenner, für das Leben in Gemeinschaften. Der kultivierte „Mensch“ entsteht erst in Gemeinschaften und kann auch nur in Gemeinschaften überleben. Wir sind soziale Wesen. Jeder Einzelne trägt dieses Wir in sich, nur auf andere Art entstanden.
Die soziale Identität kann am Einfachsten als Sammlung der individuellen Identitäten verstanden werden. Damit gilt zunächst alles eben Gesagte: Viele Wir-Kerne treffen in vielen flexiblen Ich-Räumen aufeinander. Zugleich werden Gemeinschaften aber bewusst von Menschen eingegangen und gestaltet – sie werden sozial konstruiert, oder „ausge-handelt“. Das kann nur funktionieren, wenn Werte ihrerseits gewichtet werden. Im Rahmen von Wertebündeln, die sich aus dem „Gemeinsam“ ergeben, werden manchen Werte eine höhere Entscheidungsgewalt für die Gruppe zugeordnet, als anderen Werten. So bestimmt in Sportgruppen von Kindern oft der Stärkere „wo es lang geht“, denn im Sport geht es um Kraft. Im Alter wird Kraft nur umfassender beschrieben, so daß wir uns z.B. gerne einem Bergführer anvertrauen, der körperliche, geistige und seelische Kraft ausstrahlt. Das gleiche gilt für Oma und Ihren Kuchen, denn beim Backen zählt die Erfahrung. In diesem Sinne kann man Werte auch schmecken und ist „Geschmack“ auch ein Gefühlsbündel, das man bilden kann. Letztlich schmeckt der Kuchen von Oma einfach nur „runder“, wobei der Rest der Familie immer nur einen Teil Ihrer Erfahrungen „verbacken“ kann. Der „beste Käsekuchen der Welt“ ist mithin ein reines Konstrukt, völlig unabhängig vom Kuchen selber. Es ist Oma und nicht der Kuchen, die den Geschmack ausmacht. Jedenfalls, was dieses Beispiel betrifft, war das in meiner Kindheit so. Heute ist der Raum für Austausch und Wahlmöglichkeiten wesentlich größer. Das verändert den Wir-Kern und damit verändert es auch die sozialen Identitäten. Nicht zufällig sagen Soziologen, daß die Nation sich auflöst. Die Frage ist nur: wohin? Was ist der Kern der sozialen Identität? Im klassischen Verständnis würde sich ein stärkeres, fokussierteres Wir bilden. Wenn sich aber viele Werte zu einem Kern verdichten, dann ist es einfacher, diese wenigen, wesentlichen Werte als Ich zu beschreiben, als Persona, die virtuell für den perfekten Stellvertreter der sozialen Gruppe steht, oder m.a.W. ein höheres Ich. Ein einfaches Beispiel zeigt die Marke Tirol. Die Werte des Landes wurden zu fünf wesentlichen Werte gebündelt. Diese fünf Werte, z.B. Mut, lassen sich als wesentliche Elemente eines Charakters beschreiben. Auf diese Art kann der Kern der sozialen Identität, das „Ich“, die Kommunikation inkl. dem Verhalten der Marke nicht nur begreifbar, sondern verhaltenswirksam steuern. Die Marke als soziale Identität agiert wie ein höheres Wesen. Sie wird, gefühlt, anfassbar.
Stellt der Ich-Raum der Individualität das Leben dieser Person selbst dar, so wird im Wir-Raum der sozialen Identität das Ich lebendig, indem die Werte der sozialen Identität durch Menschen vertreten, kommuniziert und eben dadurch lebendig werden.
Jetzt können wir die Beschreibung einer Marke wieder aufnehmen. Ein Unternehmen kann endlos Markenwerte kommunizieren, wenn es keine Menschen gibt, die diese Werte annehmen und vertreten, wird es ein Selbstspiel bleiben. Wenn aber nun Menschen Markenwerte vertreten, erwerben sie sich dadurch Rechte an der Marke. Mehr noch – die Marke wird zu einem Teil Ihrer selbst, sie wird Ausdruck Ihrer eigenen Identität. Einfach, indem die Nutzer mehr in Ihr Leben lassen, als ein Produkt. Wie tief oder intensiv dieser Prozess ist, kann sehr unterschiedlich sein und ist tlw. von der Branche und dem Produkttyp vorgegeben. In jedem Fall geht dieser Prozeß über ein Bauchgefühl hinaus: das Bauchgefühl ist nur ein Ausdruck für die reflektierten Werte. Zugleich ist es ein Referenzrahmen für die Bedeutung dieser Werte. Damit lässt sich der Abstand der individuellen Werte zu den sozialen Werten der Marke beschreiben, messen und steuern.
„1. Eine Marke kann als die Summe aller Vorstellungen verstanden werden, die ein Markenname oder ein Markenzeichen bei Kunden hervorruft bzw. beim Kunden hervorrufen soll, um die Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden.“ Gabler Wirtschaftslexikon
Typischerweise werden Marken egozentrisch beschrieben. Wenn man ungenau ist, mag das reichen, da der Kern der individuellen Identität der Marke ein Wir ist, das also verbindend wirken kann. Wenn man aber, und das ist in unserer Zeit eher der Standard, als die Ausnahme, die Bildung und Kommunikation der Marke als Leistung Ihrer Verwender, Bekannten, Fans und Freunde sieht, dann muss man einen Schritt weiter gehen und die Marke als Symbol des Wertekerns einer sozialen Identität beschreiben. Die Markenfläche, das Image, wird so zu einem Markenraum, lebendig: selbstreferenziell und offen zugleich, beständig und sich beständig erneuernd, statisch und dynamisch. Mit anderen Worten: wirk-sam.
Die Auswirkungen meines Ansatzes sind, denke fühle ich, umfassend, nicht nur auf die Reputation und die Stärke der Marke, sondern z.B. für die exaktere Fassung des Markenbegriffs im Dienstleistungssektors. Zu dieser und anderen Branchen demnächst mehr. An dieser Stelle möchte ich nur die Funktionen der Marke lt. Gabler genau andersherum darstellen:
Lt. Gabler, Marke / im Marketing; 5. Funktionen: a) Für den Konsumenten:
(1) Zusatzinformationen (z.B. über die Qualität) liefert und damit das wahrgenommene Kaufrisiko verringert,
(2) Orientierungshilfe innerhalb der vielen Angebote ist,
(3) Vertrauen schafft,
(4) einen emotionalen Anker darstellt, d.h. bestimmte Gefühle und Images vermittelt und
(5) zur Abgrenzung und Vermittlung eigener Wertvorstellungen beiträgt.
Lt. Domsalla, Blog Marketing Welten, Hier & Jetzt, Funktion der Marke für den Nutzer:
- Wertebündel, um eigene Wertvorstellungen zu leben und zu vermitteln
- Ausdruck der Wertung von Gefühlen, z.B. als emotionaler Anker oder Symbol einer Überzeugung
- (Stabilität der Werte erzeugt Vertrauen:) Marke als Ausdruck von Charakter, z.B. Vertrauenswürdigkeit
- Orientierungshilfe bei der Bewusstwerdung, Schaffung und Bestätigung der eigenen Identität
- Verleiht dem Kauf Bedeutung (dynamisch, sozial) & Sinn (statisch, individuell) bei schnellerer und besserer Entscheidungsfähigkeit
Bei all dem, was eine Marke sein kann, ist Ihre Funktion als soziales Wertebündel als Höchstes zu werten, denn alles andere kann davon abgeleitet werden. Die letzte Ursache aller Entscheidungen sind Werte, egal ob es leichte oder schwere Entscheidungen sind, gleich in welchem Rahmen.
Zu den Auswirkungen des Ansatzes auf die verschiedenen Branchen demnächst mehr hier. Ich hatte bereits das Glück, auf einer Zugfahrt den Ansatz mit einem Professor der Sozialwissenschaften aus Bremen zu diskutieren, der das Modell als „aus systhemtheoretischer Sicht“ und „sehr stimmig“ bezeichnete. Mehr fachliches Feedback ist also sehr erwünscht.
Bildquellen:
1) Symbolische Darstellung des Circumpunkt, abgeleitet aus der traditionellen Markierung von Wanderwegen in Tirol, Umschlag eines Notizbuches der Künstlerin Viola Hofer, erhältlich im Tirol Shop
2) Glückliche Wanderer nach Erreichen des Berggipfel beim Sonnenaufgang, Ausschnitt eines Fotos des Posthotel Pfunds
Sehr interessant! Aus meiner Sicht: Vermeiden Sie einen essentialistischen Begriff von Identität (sowohl personaler wie auch kollektiver), dann verschwinden wahrscheinlich auch die Anklänge an die Esoterik, die (nicht nur in der Bildwahl) manchmal aufscheinen – nichts für ungut!
Kleine Anmerkung: Sie schreiben „der Nutzwert (…) der durch den Preis bestimmt wird“. Wenn Sie mit Nutzwert den Gebrauchswert meinen, ist das nicht richtig. Der Tauschwert korreliert mit dem Preis, nicht der Gebrauchswert. Ansonsten ist mir nicht klar, was mit Nutzwert gemeint ist.
In jedem Fall: Herzlichen Dank für die anregenden Gedanken!
Hr. Schwenn – ganz herzlichen Dank für diesen präzisen Kommentar! Die Formulierung meinerseits war nicht präzise. Mit Tauschwert haben sie natürlich recht. Aus dieser Differenz von Nutz- und Tauschwert, lassen sich u.U. fruchtbare Diskussionen ableiten, da sich hier Preis- und Wertebereiche „berühren“, z.B. Preiseinigkeit bei Wertekongruenz und Verhandlung als Werte(aus)tausch.
Zur Esoterik: Solange es nur Anklänge sind, geht’s wohl noch ;)
Die angesprochene Bildwelt, für mich die Kombi von i. (plattes?) Werbefoto am Berg, ii. Bildunterschrift und iii. Bildbeschreibung am Ende des Textes, macht einen Raum auf zwischen „Kitsch – Gefühlen – Esoterik – Religion – Philosophie – Mystik“. Für alles davon finden sich Symbole in der Bildwelt.
Es liegt im Auge des Betrachters, wie er das Bild wahrnimmt und wieviel Mühe er sich macht (um z.B. das „Glückliche Wanderer nach Erreichen des Berggipfel…“ zu entdecken und zu berücksichtigen). Es zeigt mir in einem Kommentar z.B., mit welchem „Wir“ als Identitätskonstrukt ich es zu tun habe, auch wenn ich den Menschen dahinter nicht kenne.
Der Blogpost selber war ein „Festhalten und Strukturieren einer Idee“, die in Teil II „Die Entstehung der Arten von Marken — und Ihrer Typen“ mehr Substanz (und weniger Essentialismus) bekommt. Den Text habe ich also in einem Rutsch runtergeschrieben. Arbeit am offenen Corpus ;-)
An der Bildunterschrift zu den Wanderern, den zwei Sätzen zum „Gipfel“, habe ich drei Stunden gesessen. Ich hatte gehofft, eine Reaktion zu bekommen, die mich an wesentlichen Punkten weiterbringt. Esoterik ist – welch ein Zufall, 9 Monate später – gerade jetzt so ein Thema, danke dafür!
Zu Identität und „Wesensphilosophie“ würde ich mich gerne mündlich weiter austauschen.
Bei der Gelegenheit: Der Begriff „Ansatz“ im Text meint Denkansatz, Ansatz zum Weiterarbeiten, nicht Ansatz zur Markenführung.
Ich denke, mein erster Satz bekommt jetzt die rechte Bedeutung, weshalb ich ihn wiederholen möchte:
Hr. Schwenn – ganz herzlichen Dank für diesen präzisen Kommentar!
Wirklich sehr spannender Beitrag :) Habe ihn mit Freude gelesen und grüble nun weiter. Wird direkt geteilt!