Ein einmaliger Ort – die re:publica #rp
Es gibt Orte, die sind fest mit dem Ort verwachsen. Dann gibt es Orte, die entstehen zeitweise in Raum und Zeit. Diese Orte sind über vernetzte Kommunikation verwachsen. Es sind virtuelle Orte, verortete Gemeinschaften. Der Mensch braucht Orte. Sie sind das gemeinschaftliche Pendant zum Bewusstsein: Hier sind wir. Ist die Verortung stark genug, materialisieren sie sich. Es gibt einen Grund für die re:publica, kurz #rp.
„… und alles griechische Wesen drängte auf diese seine schließliche Gestalt, die Polis, hin, ohne welche die höhere griechische Kultur gar nicht denkbar wäre. …
Der eigentliche Mittelpunkt einer Polis aber war die Agora, der Platz.“*
Im neunten Jahr Ihres Bestehens nähert sie sich der Schallgrenze. Von 700 Teilnehmern im ersten Jahr, hat sie dieses Jahr die 7000 fast erreicht. Schon damals kannte ich nur 1/10 der Teilnehmer. In diesem Tempo wachsen keine Konferenzen, Messen schon. Eine Messe braucht keine Aussteller. Eine Messe braucht ein Thema. Früher war es das Bloggen, aus dem das Social Web wurde. In diesem Jahr war es Europa. Europa ist auch so ein virtueller Ort, auch so ein social Web, ein Ort, der 2000 Jahre später immer konkreter wird. Weil z.B. ein Ausweis und eine Geldbörse reicht. Jedoch auch, weil man sich in ganz Europa auf die gleiche Weise unterhalten kann. Europa ist Mainstream.
„Agora dagegen kommt von „versammeln“, bedeutet auch sehr oft die Versammlung ohne Rücksicht auf den Ort.“*
„finding europe“, das Ortsthema, talk of the town, ist englische Verlaufsform. Erinnern wir uns kurz: die Angeln und die Sachsen haben sich recht früh auf die Insel zurückgezogen. Aus „germanischen Dialekten“ wurde eine Sprache. Jahrhunderte später wurde sie Nord-Amerikanische Landessprache, mit knappem Sieg vor dem Deutschen. Seit den 50ern des letzten Jahrhunderts haben die US-Amerikaner, längst wieder vermischt mit anderen deutschen und internationalen Volksstämmen, das Internet aufgebaut. Es gibt einen Grund, warum sie es cool fanden. Seitdem hat sich das Netz um den Globus gespannt und das Englische war seine Sprache. Womit wir wieder bei der Verlaufsform sind, recht typisch englisch. Mag man also im Deutschen denken: „Finding Europe“ wäre die Aufgabe, das Thema, der Job, so wird man im Englischen vielleicht etwas anderes verstehen: Europa findend. Man ist also gerade dabei, genauer: mittendrin, statt nur dabei. Anfassen, nicht nur anschauen.
So darf man meinen Twit verstehen: „7000 finden Europa, wo noch?“
Aber was ist dieses Europa eigentlich? Was hat das mit dem Internet zu tun? Und wer oder was ist diese re:publica denn nun eigentlich? Astro_Alex gibt Antworten. Dr. Alexander der Große war auf der Raumstation. Draussen im Weltall. Die Verbindung zur re:publica? Zunächst Twitter. Er bedankt sich, daß „…hier die sitzen, die dazu beigetragen haben, das die Mission so bekannt wurde…“ Also erfolgreiche Wissenschaftskommunikation?
Äh, nein. Ich hab auch dazu beigetragen und dachte immer nur: andersrum, es war so geil, daß ich dabei sein durfte! Was für Bilder! Was für geile Twits! Und so ging es sicher Vielen, die seinem Ausflug ins All folgten.
Und so steht Astro_Alex (eigene Orte haben auch eigene Namen) vor der Masse und erzählt, plaudert, zeigt, freut sich, ist reichlich nervös und unsterblich sympathisch. Warum? Weil er auf Augenhöhe spricht. Er steht auf der Bühne, aber er ist kein Rockstar. Eher Punk. Oder Nerd, wie es umfassender heisst. Er liebt sein Zeug und freut sich, daß andere sich mit freuen. Positive Leidenschaft. Der Kit, der Menschen zusammenklebt.
„Aristoteles hilft uns überdies zu einer sehr deutlichen Unterscheidung. Er verlangt eine Agora der Freien, wo nicht verkauft wird“*
Und so wird es Vielen gehen auf der re:publica. Auf der Bühne, vor der Bühne, neben der Bühne. Augenhöhe geradeaus. Europa, das ist Gemeinschaft mit vielen Gesichtern. Die Gemeinschaft fühlt sich immer anders an, aber sie fühlt sich immer gemeinsam an. Gemeinschaft wächst auf Augenhöhe. Gemeinschaft ist ein europäischer Wert an sich. Leidenschaft treibt sie voran. Wenn die Re:publica überhaupt ein Thema hat, wie eine richtige Konferenz, oder ein emotionales Thema, wie ein richtiges Event, dann ist es das: die Gemeinschaft. Europa im Herzen und seine Werte.
Und so schreibt der Chefnerd der Nihilisten auf Twitter, Eric Jarosinski alias @NeinQuarterly:
„Stay disappointed, in your very special German way.“ @saytine, Twitter
Da steht immer noch „German“, nicht „deutsch“ oder „teutonic“. Verfolgen wir die Spur der Angeln und der Sachsen weiter, verwundert es vielleicht weniger, warum die Amerikaner uns bewundern, für unsere Privacydiskussion und so. Jedenfalls die Nerds unter Ihnen. Das ist eben der German Way. Während Uber und AirBnB dem hemmungslosen Wirtschaftswachstum huldigen, fragen wir uns, was dann mit den Taxifahrern und Hoteliers passiert? Während die NSA die Technik, die sie selbst gebaut haben, für die Überwachung von Terroristen nutz, fragt unsere Kanzlerin, was dann aus der Freundschaft wird. Während Social Media zum großen Werbethema wird, veranstalten wir die re:publica.
„… jenem für die Nordländer nie mit einem Wort übersetzbaren Treiben. Die Wörterbücher geben an: „auf dem Markt verkehren, kaufen, reden, ratschlagen u.s.w.,“ können aber das aus Geschäft, Gespräch und holdem Müßiggang gemischte Zusammenstehen und Schlendern nicht wiedergeben.“*
Und dann passiert etwas Magisches. Neben mir in der Jazzbar möchte jemand (der den Handwerkern das Internet leichter machen möchte) keinen Espresso mehr, sondern einen Espresso Macchiato. Da mischen sich amerikanische und italienische Kultur in einem winzigen Moment und der Barrista, definitiv ein
Kaffeenerd, schwenkt kurz die schaumige Milch zu einem Einhorn. Ein Versehen. Ja, ja. An einem Ort, an dem jede Menge Einhörner zu sehen sind. – und wenn es nur der Punkt ist, das mein Nachbar und ich das Einhorn als solches interpretiert haben. Aber natürlich war das nicht der magische Moment. Das ist nur eine der tausend kleinen Geschichten am „Rande“. Eine Geschichte, wo zwei mit gleichen Geschichten etwas sehen, daß gar nicht real existiert. So wie Europa.
„… daß ohne Gespräch die Entwicklung des Geistes bei den Griechen weniger denkbar ist als bei irgend einem anderen Volke, und daß Agora und Symposium die beiden großen Stätten der Konversation waren.“*
Vor zwei Jahren hatte ich überlegt, ob die re:publica noch Sinn macht. Dieses Jahr lief sogar vorab die gleiche Diskussion auf Facebook. Vor zwei Jahren dachte ich noch, ich könnte nichts mehr Lernen. Dieses Jahr hab ich etwas gelernt: es ist schön, wieder Schüler zu sein und es gibt noch eine Menge zu Lernen.
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Zum Beispiel bei den Muslimen. Die eine als Comedian, eine türkische Cündy aus Mührzahn, aufgewachsen als deutsche Walldorfschülerin, die andere als angehende Juristin, Jung-Bloggerin und Identitätskämpferin. Die Erste: „wenn überhaupt, ist das mein Problem“ (die Walldorfschule) – auf die Frage, wie die Muslime Ihre Comedy sehen. Die Zweite: „Es geht dich überhaupt nichts an, warum ich ein Kopftuch trage.“ als Dauerthema bei dem Versuch, den Leuten zu erklären, daß sie die auch nicht fragt, warum sie eine Jeans anhaben, kurz gesagt. Es war also ein intensiver Austausch zum Thema Identität, Werte und Klischees. „… weil Integration ja gar kein Anfang und gar kein Ende hat…“ Der Titel: Europa wir müssen reden. Für mich Marke pur, mit Übertragung aus anderen Bereichen, in denen Identität und Werte Sinn machen.
Richtig, die eine ist erfolgreich auf Youtube, die andere hat es in wenigen Wochen mit Ihrem Blog in die Medien geschafft und ist zur Muslimerklärerin geworden. Aber spielen die Worte Youtube und Blog dabei eine Rolle? Ist es das, was die Menschen auf die re:publica treibt?
Wenn das so wäre, dann wäre „Finding Europe“ ein denkbar sinnloser Titel. Aber so ist es eben nicht.
„Die lebendige Polis, das Bürgertum, ist ein sehr viel mächtigeres Produkt gewesen als alle Mauern, Häfen und Prachtbauten.“*
Manche von den frühen Stammgästen sagen „Klassentreffen“, andere „Familientreffen“. Ich bin beim Letzteren. Familie fühlt sich mehr nach Heimat an, als nach Unterricht. Da lernt man auch mehr, ehrlicher und Wesentlicheres. Familie, Klasse, Gesellschaft, das sind auch so Orte.
Die re:publica ist der Ort für Nerds. Nerds haben die Welt vorangebracht. Nerds interessieren sich mehr für die Welt, als für sich. Nerds fanden, elektrischer Strom ist cool, Nerds fanden, ein Baumstamm kann auch schwimmen, Nerds fliegen in den Weltraum, um ein Mittel gegen Krebs zu finden, Nerds machen Witze über Klischees, um Identität zu wahren, Nerds sind drei Tage in Berlin, um einen Ort zu haben. Thema: spannend! Erlebnis: intensiv! Und erst die Menschen! Jemand sagte: das Schönste ist doch, daß sich hier 6000 Menschen treffen und alles ist friedlich und alle sind freundlich zueinander. So normal und doch so ungewöhnlich.
Das Kleinste, das Geläufigste, das Gewöhnlichste ist manchmal immer das Wichtigste. Zum Beispiel Freundlichkeit unter Fremden. Nichts gegen die SXSW, aber das hier ist Europa und die Gäste kommen aus der ganzen Welt.
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Europa wurde von Zeus verführt. Zeus, der Donnernde, der Gewaltige und Gewalttätige. Europa ist ein griechisches Wort, so wie Demos, das Volk. Griechenland ist das Land auf der Welt, in dem das Wort Fremder und das Wort Gast nur ein einziges Wort sind. Ein Wort, welches beides vereint: Hi Du, willkommen! Die Griechen, mit ihren vielen Wurzeln in die europäische Kultur, machen also zwischen Fremd & Gast keinen Unterschied. Da wird nicht bewertet, da ist man erstmal neutral und offen. Vielleicht sieht man ja zusammen ein Einhorn. Schauen wir mal.
Und so zeigt die statistische Auswertung der re:publica einen Ausschnitt des Globus und den Satz: Alle Kontinente waren vertreten. Weder nur als Gäste, noch nur als Fremde, sondern als Teilnehmer. So wie im Internet.
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Leider habe ich in diesem Augenblick kein Foto gemacht: drei Afrikanerinnen, dunkel wie die Nacht, unterhielten sich ganz aufgeregt auf dem Hof. Vermutlich die Referenten des Vortrages „10 Things Europe can learn from Kenya“ Oder auch nicht, egal. Das gleiche glitzern in den Augen, wie bei all den anderen Nerds. Wäre die Hautfarbe nicht gewesen, man hätte keinen Unterschied zum Rest der wilden Horde finden können. 0,001 % der DNA bestimmen die Hautfarbe, oder so ähnlich, egal. Hier fühlte es sich wunderbar unwichtig an.
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Es gibt ein dickes philosophisches Buch von einem Amerikaner, der 2000 Jahre europäische Philosophie und westliches Denken zusammenfasst. Das Buch trägt den Titel „Idee & Leidenschaft“. Die beiden Komponenten, um die sich das Denken immer wieder dreht. Zwei Komponenten, zwischen denen Europa liegt. re:publica -> Idee (Conference) & Leidenschaft (Event) -> Think Europe.
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Damit nähern wir uns der „Schallgrenze“. Die letzte re:publica, die in der Kalkscheune in Berlin stattfand, rührte mich enorm. Mir war klar, daß sie nie wieder so sein wird, wie bisher. Mir war nicht klar, was daraus wird. Die Schallgrenze ist der „Ort“, an dem Geschwindigkeiten mit der Schallgeschwindigkeit dimensionslos gemacht werden. Die re:publica nähert sich diesem Ort, der anders, neu ist, aber das Alte mitnimmt.
Auch das Internet braucht einen Ort, an dem es sich materialisieren kann, denn die Verortung ist stark genug. Einen Ort, an dem sich die Macher und Denker und Fühler in die Augen schauen können.
Eine Agora des Internet, auf der man miteinander redet. Ich denke, das Internet hat seinen Ort gefunden. In seiner Heimat. Mitten in Europa. Mittendrin. Zum Anfassen!
Die Station [sic!] in Berlin, der Stadt, die aus über 300 Dörfern und Kiezen besteht. Ich glaube nicht an Zufälle, ich glaube an Struktur.
Die re:publica ist das Klassentreffen der Nerds dieser Welt, die eine Familie sind, weil sie leidenschaftliche Menschen sind, weil sie europäische Menschen sind, weil sie Menschen sind. Wenn man ganz weit zurück denkt, dann begann die re:publica in meinen Augen mit den Schutz von Kindern und Jugendlichen (Stichwort: Jamba), von einer Firma, die man heute als Rocket Internet kennt und die Firmen wie Uber und AirBnB imitieren. Ich hab nix gegen Wirtschaft, aber die ersten Maschinen, die in England produziert wurden, waren auch Scheisse und die Folgen waren noch viel Schlimmer (z.B. millionenfache Kinderarbeit in den Fabriken). Dann kam lange nix und dann kamen die deutschen Ingenieure. Natürlich waren da jede Menge Nerds zugange. Hr. Daimler, dessen etwas größerer Konzern heute die re:publica sponsert, muss so ein Nerd gewesen sein.
Das Internet ist nun um die 60 Jahre alt. Die Produkt24 etc. Werbung immer noch so nervig, wie die Jamba Klingeltöne. So macht man Umsatz, aber kein Geschäft. Höchste Zeit also für etwas „German Engineering“, the 21. century way.
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Zwischendurch lerne ich bei mspro (Michael Seemann) und Sebastian Gießmann noch, daß Plattformen Netzwerke produktiv machen. Netzwerke brauchen also Plattformen. Es gibt viele Plattformen im Internet, die viele Menschen reicher machen, bereichern. Nur das Internet selbst hat keine Plattform.
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Ob die re:publica was bringt? Sie ist der Ort, an dem die Zukunft verhandelt wird. Auf der Athener Agora ist wohl die Idee der Demokratie entstanden. Das arbeitet bis heute. Das Bürgertum, das ganze Wirtschaftssystem, Poesie und Philosophie sind daraus entstanden. Wahrscheinlich wollten die Griechen auch nur ihre Kinder schützen, vor einem Tyrannen zum Beispiel.
Was auf der Agora des Internet entsteht, kann man noch nicht genau sagen. Zunächst nur die Einsicht, daß lauter nette Menschen um dich herum sind. Wie der Nachbar an der Bar, mit dem man zusammen ein Einhorn sieht. Oder der Mann von der Raum-Station, der kurz mal Hallo sagt.
Aber eines kann man sagen: es wird hier entstehen, und zwar nur hier. Damit geht eine intensive und lange Suche für mich zu Ende:
Die re:publica ist die Agora des Internet.
Finding Europe? #check
re:publica ick liebe dir. Ein Hoch auf die re:publicaner! Nächstes Jahr feiern wir zusammen Jubiläum. Danach wird aus dem amerikanischen, das europäische Zeitalter im Internet. Und wir waren von Anfang an dabei. <3
Bildquellen: eigene Fotos, die Statistik ist aus dem Reader Tag 3 der re:publica
PS: Wer glaubt, der Beitrag besteht aus zu vielen, zu wenig verbundenen Gedanken und Ideen, der war noch nie in DER Republic.
„stellt er [Aristoteles, d.V.] dann den Griechen den zweierlei Barbaren gegenüber, den nordischen Naturmenschen und den asiatischen Kulturmenschen, und weist ihm die Vorzüge beider zu, den Mut der einen und den Verstand der anderen“*
*Zitate zur Agora und Polis: Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 1898, Erster Band, zweiter Abschnitt „Staat und Nation“, Die Polis